Das am 08. November 2025 im Westfalen-Blatt abgedruckte “Wort zum Sonntag” enthält Antisemitismus wie aus dem Lehrbuch.


Der Text des emeritierten Pfarrers im Westfalen-Blatt enthält in mehrfacher Hinsicht antisemitische Denkmuster und reproduziert eine Täter-Opfer-Umkehr, die historisch wie moralisch problematisch ist.
Bereits die zentrale Frage „weshalb die Juden überhaupt so viel Feindschaft auf sich gezogen haben“ setzt ein Täter-Narrativ in ein kausales Verhältnis zu seinem Opfer. Statt den Antisemitismus als das zu benennen, was er ist, nämlich ein seit Jahrhunderten wirkmächtiges Ressentiment, das mit Lügen, Projektionen und Verschwörungsmythen arbeitet, suggeriert der Text, es müsse eine Art Grund geben, warum Juden „Feindschaft auf sich gezogen haben“. Damit wird Verantwortung verschoben: Nicht mehr die Antisemiten, sondern die Jüdinnen und Juden erscheinen als diejenigen, die das feindliche Verhalten anderer „verursachen“. Diese Umkehr ist ein klassisches Muster antisemitischer Argumentation.
Der Passivsatz „Feindschaft auf sich gezogen haben“ verschleiert zusätzlich, wer hier eigentlich handelt. Die antisemitischen Täter verschwinden sprachlich aus dem Satz. Und mit ihnen die Verantwortung. Das Leid der Opfer wird zur quasi naturhaften Folge einer angeblichen Besonderheit der Juden erklärt. Wer hat die Feindschaft gezeigt? Wer hat gehasst, verfolgt, deportiert, ermordet? Die handelnden Subjekte – die Antisemiten, Pogromtäter, Nationalsozialisten – verschwinden sprachlich. Übrig bleiben „die Juden“ als grammatisches Subjekt, also vermeintlich die, die etwas tun. Das ist eine rhetorische Entlastung der Mehrheitsgesellschaft und steht im Widerspruch zum historischen Befund.
Besonders problematisch ist die Begründung, die der Text anbietet: Jüdinnen und Juden hätten sich „nicht vollständig ihrer Umwelt angepasst“ und „ihre Identität bewahrt“ – und seien deshalb Ziel von Hass geworden. Damit wird nicht nur ein Schuldzusammenhang konstruiert („sie sind selbst schuld, weil sie anders geblieben sind“), sondern die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit von Juden wird als Provokation dargestellt. Das ist die Logik des Antisemitismus: Anderssein wird pathologisiert und zum Anlass gemacht, Gewalt oder Ausgrenzung nachträglich zu rechtfertigen.
Die Behauptung, es handle sich bei dieser „Andersartigkeit“ um den „entscheidenden Grund“ für Verfolgung, blendet vollständig aus, dass Antisemitismus kein rational erklärbares Phänomen ist, sondern ein irrationales, ideologisches. Judenhass entsteht nicht „wegen“ des Judentums, sondern „trotz“ der realen Vielfalt jüdischen Lebens. Er ist eine Projektion der Mehrheitsgesellschaft, die eigene Ängste, Krisen und Schuldgefühle externalisiert.
Schließlich tarnt der Schlusssatz „Dabei sind die Juden weder schlechtere noch bessere Menschen“ die vorausgegangenen Stereotype als vermeintlich „ausgewogen“ oder „objektiv“. Diese rhetorische Figur des sogenannten „sekundären Antisemitismus“ versucht, durch ein pseudo-neutralisierendes Fazit den antisemitischen Kern des Gedankengangs zu verschleiern. Diese Art von rhetorischem Abschluss „aber natürlich sind sie auch nur Menschen“ wirkt wie eine Selbstabsicherung: Man meint, sich gegen Antisemitismus immunisieren zu können, nachdem man ihn zuvor rationalisiert hat. Inhaltlich ist es jedoch eine „Bothsides“-Relativierung: Sie suggeriert, man habe ja nur erklärt, nicht bewertet.
Diese Form der Argumentation ist kein Missverständnis, sondern Ausdruck einer tief verankerten antijüdischen Denktradition, die bis heute wirksam ist. Sie verharmlost Gewalt und Diskriminierung, indem sie den Opfern Mitschuld zuschreibt. Und genau das ist der Kern jeder Täter-Opfer-Umkehr.
Dass solche Passagen im Westfalenblatt als „Wort zum Sonntag“ erscheinen, ist besonders heikel. Ein christlicher Zugang müsste nicht die Frage stellen, warum Juden gehasst werden, sondern warum Menschen hassen. Er müsste Solidarität betonen, Verantwortung benennen und Opfer schützen, statt nachträglich kulturelle Differenz als Ursache von Gewalt zu konstruieren. Erst recht in einem Text anlässlich des 09. November 1938.