CDU-SPD-Grüne-Linke-FDP sagen: Flüchtling = Problem = Abschiebung
Wir haben jetzt alle Spitzenkandidaten der größeren Parteien in diversen Duellen gesehen. Für ausnahmslos alle Parteien, die nach derzeitigen Umfragen in den Bundestag kommen, wird Flüchtlingspolitik praktisch ausschließlich von Abschiebungen her gedacht. Alle überbieten sich in Härte und Empörung. Özdemir von den Grünen ist sogar noch sichtlich stolz auf die Abschiebequote im grün regierten Baden-Württemberg. Es geht nur um „Gefährder“, diese müssen – untermauert mit einer entschlossen geballten Faust – „Raus!“ (Obergenosse Schulz), der „liberale“ Lindner meint, dass „Wer kein Aufenthaltsrecht hat, der muss so schnell wie möglich zurück“. Für Lindner und seine FDP ist die Lösung von allem, dass es mehr sichere Herkunftsländer geben muss. Wagenknecht will das alles technokratisch angehen und benennt nur die Sachzwänge und komplizierten Gesetzeslagen, die bedingen, dass abgeschoben werden „muss“ (Schade auch. Kannste nix machen, alternativlos, wa?), ohne, dass sie ins Spiel bringt, diese Gesetzeslagen möglicherweise sogar in die andere Richtung für die schutzsuchenden Menschen zu verbessern.
Ausnahmslos alle teilen offensichtlich die Prämisse, dass „das Boot voll ist“, wenn sie nur über Abschiebungen sprechen, nicht über die menschlichen Tragödien, wenn sie nicht darüber sprechen, was wir nachhaltig dafür tun können, um den Menschen zu helfen, um die Situation für die Menschen zu verbessern. Keine Partei denkt vom Menschen her.
Die Debatte ist komplett dehumanisiert. Keine dieser Parteien ist aus Sicht eines konsequent humanistisch denkenden Menschen in Fragen des Asyls wählbar. Alle dienen sich speichelleckend des neurechten Mainstreams an.
Und selbst „technokratisch“, also auf der profanen Suche nach Wählerstimmen, verstehe ich das Agieren von Grünen, Linken und FDP nicht. 9 Millionen Menschen haben in irgendeiner Form seit 2015 aktiv in der Geflüchtetenhilfe mitgewirkt, haben also auf das Thema bezogen offensichtlich eine aktive positive Grundeinstellung. Wieso werden die aktiv vergrätzt? Das ist ein riesen Potential des gesellschaftlichen Miteinanders, was aktiviert werden kann.
Diese hohlen Sprüche „Danke an all die ehrenamtlich Helfenden, ohne euch klappt das nicht!“ kotzen mich langsam an. Da wird geholfen, da werden persönliche Kontakte aufgebaut, da wird im besten Sinne Integration „gemacht“. Und dann sollen die alle nur wieder schnellstens abgeschoben werden. Was für ein großer Bullshit.
Mir geht es hier um den Denkansatz.
Man hört „Asyl“ oder „Flüchtling“. Denkt man dann zuerst „Problem“ oder „Abschiebung“ oder denkt man „Helfen“ oder „Menschen“?
Derzeit werden uns Lösungen (Abschieben!) für Probleme („Gefährder“!, Staatshaushaltsbelastung!) präsentiert, die in der Priorität, wie sie behandelt werden, überhaupt nicht das vordringlichste Problem darstellen.
Das, was ich mit höchster Priorität und Dringlichkeit sehe, sind Menschen, die Schutz brauchen, die Perspektive brauchen. Wenn man sie nur als Problem ansieht, für deren Lösung man viele Ressourcen einsetzt, um sie auf möglichst vielen Wegen wieder außer Landes zu bringen, dann ist das nach meinem Dafürhalten völlig an den humanen Bedürfnissen vorbei diskutiert.
Es ist eigentlich Aufgabe der Politiker, Haltung zu zeigen, ja, „Eier zu haben“ (man verzeihe mir diese sexistische Metapher), keine Angst vor der Differenzierung zu haben, weiterhin andere Narrative anzubieten.
Von allen wird gesagt, „dass wir die Fluchtursachen in den Herkunftsländern betrachten und angehen müssen“. Das ist natürlich vollkommen richtig, aber in diesem Diskurs auch zu einfach und eigentlich am Thema vorbei. Mich interessiert zuerst einmal, wie wir mit den Menschen, die jetzt hier sind, umgehen wollen, wie wir die betrachten. Als Verwaltungsakt oder eben als Menschen.
Damit sage ich im Übrigen nicht, dass wir als reiches Land uns nicht über die Verhältnisse in den ärmeren Regionen unterhalten müssen, damit dort keine wirtschaftliche Not besteht. Die Fluchtbewegung nach Europa 2015 entstand eben weil die Flüchtlingslager im Libanon und sonstwo nicht mehr auskömmlich von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt wurden. Weil die Kalorienzahl der Verpflegung praktisch halbiert wurde. Natürlich wollten die dann da weg. Aber auch das: Andere Fragestellung.
Das Asylrecht wurde seit 1993 sukzessive immer mehr verschärft oder aufgeweicht. Immer auf Druck eines rechten Mainstreams. Ich wünsche eine Umkehr. Wenn man diese Haltung nicht hat, dann verschiebt sich das immer mehr in die andere Ecke, das ist bei jeder Verhandlung so.
Die Chancen von 2015, als wir gesamtgesellschaftlich für eine kurze Zeit einen humanen Denkansatz hatten, wurden nicht genutzt. Wir ließen zu, dass die, die humanistisch denken und handeln, als „Gutmenschen“ oder „Teddybärenwerfer“ verunglimpft wurden.
Politik und Gesellschaft sind kommunizierende Röhren. Was aus der Gesellschaft kommt, muss natürlich in der Politik wahrgenommen und behandelt werden. Das geht jedoch genau so in die andere Richtung. Die Politik ist ja keine nur passive reaktive Aufgabe, sie ist aktiver Gestalter. Das heißt, dass Narrative und Handlungsoptionen angeboten werden sollen.
Ich gehe zur Verdeutlichung mal zur anderen politischen Seite. Die AfD ist auch so stark, weil viele Menschen sich nicht mehr vertreten fühlten in ihrer Meinung und in ihren Ansichten. Das waren die vielbeschworenen besorgten Bürger. Die AfD hat sich als Transmissionsriemen für diese Denkrichtungen angeboten. Diese Narrative haben erstaunlicherweise ein unglaubliches Übergewicht bekommen. Wie oben beschrieben, vertritt meiner Ansicht nach derzeit keine der +5%-Parteien offensiv ein Narrativ, eine Position, welches auf dem humanitären Aspekt fußt und sich dagegen stellt.
Politik sollte die Allgemeingültigkeit neu verhandeln. Und zwar in eine Richtung, die eben den menschlichen Ansatz hat. Welche Partei tut das? Welche Partei möchte das Asylrecht verbessern?
Ich vermisse eine +5%-Partei, die insbesondere beim Thema Asyl/Flucht/Migration bedingungslos humanistisch in die gesellschaftlichen Verhandlungen (und nichts anderes ist Wahlkampf ja) geht.
Selbstverständlich kann und muss auch das Thema „straffällig gewordene Geflüchtete“ und der Umgang mit diesen verhandelt werden. Natürlich darf auch die Frage „Wer muss gehen“ gestellt werden. Aber diese Fragen kann man durchaus anders betrachten und beantworten, als es derzeit geschieht. Das Instrument „Abschiebung“ stelle ich tatsächlich komplett in Frage.
Gehen wir im Diskurs einen Schritt zurück und fragen „Muss überhaupt jemand gehen (vulgo: abgeschoben werden) und wenn ja, warum eigentlich?“. Was würde denn wirklich passieren, wenn die einfach alle bleiben dürfen, wenn wir sagen würden: „Willkommen. Hier bist Du sicher. Hier hast Du eine Perspektive.“? Zu den Bedingungen, zu denen das passieren müsste, sage ich unten noch etwas.
Die Wahrheit ist: Die meisten Geflüchteten wären glücklich, wenn sie in ihren Heimatländern bleiben könnten. Sie wären glücklich, wenn sie zurückkehren könnten.
Zu irgendwelchen Quantitäten habe ich eine klare Position: Ich will darüber nicht diskutieren. Ich lehne die Diskussionsprämisse ab.
Warum?
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden 13 Millionen Flüchtlinge (so called Vertriebene) auf dem Gebiet des dann Restdeutschland aufgenommen. Meine Großeltern gehören dazu. Schwer, aber ging.
1/3 der Einwohner des Libanon sind Flüchtlinge. Schwer, aber geht.
Technisch betrachtet könnten wir also tatsächlich eine hohe zweistellige Millionenzahl von Geflüchteten aufnehmen.
Will ich das? Hielte ich das für wünschenswert? Nein.
Sind solche Zahlen überhaupt realistisch? Da schwadronieren irgendwelche Politiker von „100 Millionen“ , die quasi vor der Tür stehen. Das ist, mit Verlaub, Bullshit. Flucht ist fast immer Hemisphären-Migration. Flüchtlinge bleiben zum überwältigend größten Teil in ihrer unmittelbaren Region. Der größte Teil der Geflüchteten sind sogenannte Binnenflüchtlinge, das heißt, dass sie sogar innerhalb ihres eigenen Landes bleiben.
Selbst mit der sogenannten „Wirtschaftsflucht“ kommen wir weltweit nicht auf solche Zahlen.
Und natürlich muss eine europäische Lösung her. Das im ganzen Land Polen weniger Flüchtlinge aufgenommen wurden, als im Bielefelder Stadtteil Brackwede ist ein Skandal.
Da wir Asyl und Migration derzeit offensichtlich und ausschließlich nur mit der Prämisse „Wie kriegen so viele wie möglich schnellstmöglichst wieder weg“ diskutieren, fällt die meiner Ansicht nach wichtigere Diskussion um die Integration, die ein fortlaufender Prozess ist, unter den Teppich.
Und da passiert ja unglaublich viel. Und zwar gerade „von unten“, von der Zivilgesellschaft und auch von der Kommunalpolitik.
Die politischen Probleme der Integration liegen in den Aufenthaltsberechtigungen (geben wir denen diese doch einfach!), in den Bildungsmöglichkeiten (geben wir denen diese doch einfach!) und den Arbeitsaufnahmebedingungen (geben wir denen diese doch einfach!). Und natürlich auch in der Wohnsituation.
Wer hier ist, soll Bildung in Anspruch nehmen dürfen. Bedingungslos. Wer hier ist, soll arbeiten dürfen. Bedingungslos. Durch die Gesetze und Regeln blickt kein Mensch mehr durch. Wenn eine Firma einen Geflüchteten einstellen will, dann muss der Status geklärt werden, unter welchen Bedingungen er überhaupt arbeiten dürfte. Das einzige Kriterium sollte sein: Ist der Firmeninhaber der Meinung, dass der Geflüchtete für die angebotene Arbeit tauglich ist? Und wenn er diese Frage mit „ja“ beantwortet, dann soll er den Geflüchteten aufgrund der deutschen Arbeitsgesetze einstellen dürfen.
Und aus den „denen“ kann und sollte man in der Folge schnell ein „uns“ machen.
Das „Die“ sind „Wir“.
In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?
Eine Leseempfehlung: „Nach rechts verschoben“