Zur Ratssitzung am 15.03.2018 stellt die Paprikakoalition den Antrag „Grundlagen- und Machbarkeitsstudie zum entgeltfreien ÖPNV in der Stadt Bielefeld“:
EDIT 15.03.2018: Der Antrag wurde mit minimalen Änderungen einstimmig(!) angenommen.
Hier meine Rede dazu: https://stadtratereigugat.files.wordpress.com/2018/03/rede_michael-entgeltfreier_c3b6pnv.pdf
Kurzfassung:
Wir wollen Chancen, Risiken und Möglichkeiten eines kostenlosen/umlagefinanzierten/fahrscheinfreien/entgeltfreien ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) in Bielefeld prüfen lassen. Es gibt viele Begriffe für das grundsätzlich gleiche Prinzip.
Entgeltfreier ÖPNV bedeutet, dass man für die einzelne Fahrt keine Fahrkarte mehr kaufen muss. Die Kosten tragen alle gemeinsam, durch eine Umlage oder über Steuern, so wie das bei Straßen auch ist: Für die Benutzung der Straßen muss man nicht einzeln bezahlen. Es bezahlen auch diejenigen dafür, die kein Auto haben und so wäre das auch beim ÖPNV. Vergleichbar ist das auch mit dem Semesterticket für Studierende: Alle zahlen, egal, ob sie das Angebot nutzen oder nicht.
Das Ziel ist, dass Busse und Bahnen häufiger als bisher benutzt werden und weniger mit Autos (MIV = Motorisierter Individualverkehr) gefahren wird.
Langfassung:
Bei diesem Antrag geht es einerseits um etwas fundamental Wichtiges. Und es geht gleichzeitig um vieles nicht.
Ich fange mit der Negativ-Liste an:
- Es geht nicht darum, das wir sagen „Fahrscheinfreier/entgeltfreier/umlagefinanzierter ÖPNV muss jetzt eingeführt werden!“
- Es geht nicht darum, dass wir glauben, dass mit der Einführung eines entgeltfreien ÖPNV alle verkehrlichen Aufgabenstellungen und Probleme gelöst wären
- Es geht nicht darum, dass wir glauben, dass die Einführung eines entgeltfreien ÖPNV einfach so zu machen wäre und keine möglichen negativen Effekte zeitigen könnte
Worum geht es?
Die Meta-Ebene beim umlagefinanzierten/fahrscheinfreien/entgeltfreien ÖPNV: Wie wollen wir leben? Was kostet Verkehr? Was genau sind überhaupt (reale) Kosten des Verkehrs? Wie individuell muss und/oder darf Verkehr sein? Wie genau sind die derzeitigen Verhältnisse? Das ist keineswegs gesellschaftlich ausgehandelt.
Dazu hatte ich auch vor einigen Monaten bereits eine Rede gehalten, die einige detailliertere Fragestellungen benennt: https://stadtratereigugat.wordpress.com/2017/12/15/rede-zum-paprika-antrag-emissionsfreie-city-logistik-14-12-2017/
Der Autoverkehr in einer deutschen Großstadt kostet die öffentliche Hand und die Allgemeinheit dreimal so viel Geld wie Bus und Bahn. Das hat der Kasseler Verkehrswissenschaftler Carsten Sommer in einem Forschungsprojekt ausgerechnet. Er hat eine Methode entwickelt, mit der Kommunen die Kosten der Verkehrssysteme Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Pkw, Lkw, Rad- und Fußverkehr in ihrem Gebiet ermitteln können.
Dabei werden Kosten für Infrastruktur wie Straßen, Schienen und Haltestellen berücksichtigt, aber auch Folgen von Lärm, Umweltverschmutzung und Unfällen.
Zum Thema „umlagefinanzierter/fahrscheinfreier/entgeltfreier ÖPNV“ gibt es bereits eine Menge Studien:
- Abschlußbericht der Enquetekommission zu Finanzierungsoptionen des öffentlichen Personenverkehrs in Nordrhein-Westfalen im Kontext des gesellschaftlichen und technischen Wandels (Enquetekommission I V ) im Landtag NRW: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-13950.pdf
- Machbarkeitsstudie Berlin: https://www.neues-deutschland.de/downloads/Machbarkeitsstudie_fahrscheinlos_Piratenfraktion.pdf
- Auf dieser Seite sind viele weitere Informationen zusammengetragen: http://www.fahrscheinfrei.de/
- In vielen Städten wurde oder wird dieses Konzept bereits umgesetzt: https://de.wikipedia.org/wiki/Kostenfreier_Nahverkehr#St%C3%A4dte-Beispiele
Reale Risiken/Probleme/Aufgabenstellungen liegen auf der Hand:
- Steigende Fahrgastzahlen können Investitionen in den Linienausbau notwendig machen.
- Der Umstieg von Autofahrern erfolgt nicht immer in der prognostizierten Höhe, umgekehrt kann ein zu starker Zuspruch eine Kofinanzierung über z.B. City-Maut oder Parkplatzgebühren unterminieren.
- Vermehrt Kurzstreckenfahrgäste
- Umstiegseffekte aus der an sich erwünschten Gruppe der Fußgänger und Radfahrer
- Ein kostenloser ÖPNV kann keine zeitliche Verschiebung von Verkehren aus der Spitzenlastzeit in Schwachlastzeiten leisten.
Über einen rein umlagefinanzierten/fahrscheinfreien/entgeltfreien ÖPNV hinaus gibt es weitere zu verfolgende Optionen, um den ÖPNV in Bielefeld zu stärken, ich nenne hier nur ein paar Möglichkeiten, die insbesondere der Verein Bielefeld pro Nahverkehr in die Diskussion eingebracht hat:
- Gültigkeitsdauer des Einzeltickets auf mindestens 2 Std. verlängern
- Taktverdichtung bei ausgewählten Buslinien Verbesserung bei den Randzeiten abends und am Sonntagmorgen
- die halbe Stunde kostenloses Parken im Rathaus abschaffen
- die 2 Std. kostenloses Parken (oberirdisch) am Samstag streichen
- Parkgebühren anheben
- attraktiven Umlandtarif schaffen, ggf. als Modellversuch für 1 oder 2 Jahre mit Subvention durch die Stadt
- Marketing- und Image-Offensive
- Gezielte Angebote für die Hardcore-Auto-Generation 60+: endlich ein attraktives Seniorenticket schaffen
- Beschleunigung/Intensivierung Stadtbahnplanung
Diese Ideen stehen nicht in Konkurrenz zu unserem Prüfantrag.
Unser Antrag lässt die spezielle Option „fahrscheinfrei/entgeltfrei“ prüfen. Wir wollen, dass Bielefeld vorbereitet ist, wenn sich finanzierbare Projekte auftun.
Mit diesem Antrag öffnen wir die Tür zu einem Möglichkeitsraum. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der aktuelle Vorstoß der Bundesregierung ist gescheitert, vielleicht kommen weitere.
„Ein Sprecher des Bundesumweltministeriums sagte, aus Sicht der Bundesregierung sei ein Test mit kostenlosem Nahverkehr noch denkbar. Es sei nicht auszuschließen, dass noch eine Kommune einen entsprechenden Vorschlag einbringen werde. „Die Bundesregierung sagte zu, modellhaft zeitlich begrenzte besonders günstige ÖPNV-Angebote erproben zu lassen und zu unterstützen, sofern sie von den Kommunen vorgeschlagen werden“, hieß es in einer Mitteilung des Umweltministeriums.“
Dieser Antrag ist ein weiterer Baustein, um Bielefeld verkehrstechnisch fit für die Zukunft zu machen.